Hochkonzentriert und trotzdem entspannt: Die Kursleiterinnen Mona Behninger und Sophia Moshi

Hochkonzentriert und trotzdem entspannt: Die Kursleiterinnen Mona Behninger und Sophia Moshi.

Bild: Mission EineWelt

Tansania

Ein Anfang, der weitergehen muss

Das SETU-Projekt in Tansania ist dem Ziel gewidmet, dass Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft des ostafrikanischen Landes ankommen und aktiv an ihr teilhaben können.

Vier Sätze für einen Riesenschritt. „Ich habe mich immer vor Menschen mit Behinderung gefürchtet, weil sie anders sind. Wenn mir so jemand Essen gebracht hat, habe ich es stehen lassen. Aber jetzt sehe ich, dass sie vergessen werden. Das hat mein Herz berührt.“ So schildert Aminiel Mwenda Nnko seine persönliche Entwicklung. Die Gesellschaft im ostafrikanischen Tansania steckt noch mittendrin in dieser Transformation der Sicht auf Menschen mit Behinderung. Nicht selten wird eine Behinderung nach wie vor als Fluch betrachtet. Menschen mit Behinderung laufen am Rande der Gesellschaft mit und werden weitgehend ignoriert. Auch ihre Familien werden oft als „weniger wert“ stigmatisiert.

Aminiel Mwenda Nnko ist Pfarrer und einer von 12 Teilnehmer*innen eines SETU-Ausbildungskurses im Usa River Rehabilitation and Training Center (URRC) der Merudiözese der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Tansania (ELCT) an der Verbindungsstraße zwischen Moshi und Arusha im Norden Tansanias. SETU steht für Special Education Training Unit. Dieses Programm läuft seit 2017. Es besteht aus drei Säulen: In den Training Classes geht es um die Ausbildung von jungen Erwachsenen mit Lernbehinderung oder geistiger Behinderung. Neben dem allgemeinbildenden Bereich werden Selbständigkeit und handwerkliche Fähigkeiten gezielt gefördert. Im Aufbau befindet sich zudem eine beschützende Werkstätte, ähnlich den in Deutschland üblichen Werkstätten für Menschen mit Behinderung. Und es gibt die Ausbildungskurse für Lehrer*innen, Pfarrer*innen, Sozialarbeiter*innen, Eltern und andere Interessierte. Innerhalb von drei Monaten sollen die Teilnehmer*innen so viel lernen, dass sie, so die Kursbeschreibung im Internet, „Menschen mit Unterstützungsbedarf professionell fördern, unterstützen und begleiten können“. Vermittelt wird Wissen über verschiedene Arten von Behinderung und deren Ursachen und Symptome, über Behandlungs- und Trainingsmöglichkeiten sowie über Erste Hilfe bei Krankheiten und Unfällen. Pädagogik, Psychologie, Methodenlehre stehen ebenso auf dem Programm wie Beratung, Kommunikation und Gebärdensprache. Ein weiteres Modul behandelt die Herstellung von Unterrichts- und Lehrmaterialien inklusive der Einübung der dazu notwendigen handwerklichen Fähigkeiten.

SETU-Projekt in Tansania

SETU-Projekt in Tansani

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„Erhitze dein Gehirn“

„Wir versuchen, in 12 Wochen das Wichtigste aus der Heilerziehungspflege zu vermitteln“, kommentiert Mona Behninger, die in Neuendettelsau jahrelang Heilerziehungspfleger*innen ausgebildet hat und nun, ausgesendet von Mission EineWelt, Leiterin des SETU-Projekts ist, die umfassende Liste. Zusammen mit Trainerin und Koordinatorin Sophia Moshi, die als Co-Leiterin der Ausbildungskurse fungiert, hat sie ein dicht gestaffeltes Programm entwickelt. Jeden Morgen um 8 Uhr 30 geht es los mit „chemsha ubongo“ – auf Deutsch in etwa: „erhitze dein Gehirn“. Die Teilnehmenden werden in zwei gleich große Gruppen aufgeteilt und setzen sich einander gegenüber. Die sich jeweils direkt Gegenübersitzenden bilden ein Zweier-Team. Dann kommt die erste Frage. 30 Sekunden haben die Teams Zeit, sich miteinander auf eine Antwort zu verständigen. Wenn ein Team richtig liegt, applaudieren die anderen. Dann wird rotiert. Wie beim Speed-Dating, nur noch schneller. Neue Frage, neues Team. Die Teilnehmer*innen haben das schon verinnerlicht. Traumwandlerisch sicher wechseln sie durch, konzentrieren sich wieder, auf das neue Gegenüber, auf die nächste Frage. So wiederholen Mona Behninger und Sophia Moshi den Stoff aus den vorangegangenen Kurstagen. „Das ist Teil unserer Prüfungsvorbereitung“, erklärt Behninger. „Die Teilnehmenden lernen, sich zu fokussieren, und sie können auch ganz gut einschätzen, was sie wissen und was nicht.“

Was motiviert mich?

Fast nahtlos geht es weiter. Aufräumen, umräumen, koordiniertes, fast schon choreografiertes Durcheinander. Fertig, nächste Einheit. Konfiguration: Stuhlkreis. Ganz nebenbei haben die beiden Kursleiterinnen sich zwei Kursteilnehmer beiseite geholt und binnen zwei Minuten ein kleines Anspiel entwickelt. Jetzt gehen sie zu vier in die Mitte und legen los. „Ignoranz im Dorf“ – die kleine Szene zeigt: Menschen mit Behinderung bleiben außen vor, an den Rand gedrängt, werden nicht wahrgenommen, können nicht teilnehmen. Auf Soziologisch: Sie werden marginalisiert.

Es geht um Reflexion: Was ist die Realität für Menschen mit Behinderung? – Und um Selbstreflexion: Warum soll sich das ändern? – Warum will ich das ändern? Mona Behninger erläutert die Aufgabe: In Gruppen sollen die Teilnehmer*innen zusammentragen, wie sie dazu gekommen sind, Menschen mit Behinderung anders zu sehen und anders zu behandeln. Stühlerücken. Die Gruppen kommen zusammen, suchen sich einen Platz im Raum. Gedämpfte Diskussionen. Reden. Schreiben. Stille. Wellenweise Gemurmel.

Die Zeit ist um. Nach und nach trudeln die Teilnehmer*innen schnell wieder im Stuhlkreis ein. Was ist rausgekommen? – „Ich möchte, dass es aufhört, dass Menschen mit Behinderung aus Scham versteckt werden. Und ich will, dass Menschen mit Behinderung lernen, sich selber zu helfen“, sagt ein Kursteilnehmer, von Beruf Pfarrer. Eine Grundschullehrerin sieht das ähnlich. Sie möchte „Bewusstsein in der Gesellschaft dafür wecken, dass diese Ausgrenzung aufhören muss.“ Eine Kollegin ergänzt: „Ich habe gesehen, dass es in unserer Gesellschaft einen großen Bedarf gibt, genau hinzusehen. Was ich dann sehe, zeigt mir: Es ist wichtig, direkt zu helfen.“ So sehen das eigentlich alle. Sie haben etwas beobachtet und dabei für sich etwas erkannt. Ein Pfarrer aus der Gruppe bringt es auf den Punkt: „Wenn eine Gesellschaft Menschen rauswirft, ist es mein Bestreben als Pfarrer, diesen Menschen zu helfen.“

Umkonfigurieren. Nächstes Thema. Bis zum Mittagessen geht es so weiter. Mittendrin Mona und Sophia. Gestenreich, präsent, immer ansprechbar. Die Konzentration steht im Raum wie ein Bild, das ständig neu gemalt wird und alles in sich aufnimmt.

Mittagessen. Durchatmen, ein wenig Pause. Aber nebenbei besprechen die beiden Kursleiterinnen schon, wie’s weitergehen soll. Kursteilnehmer*innen haben persönliche Fragen. Es reißt nicht ab. Trotzdem wird die Spannung nicht zur Anspannung. Pole pole - kein Stress.

Am Nachmittag stehen – nach einer weiteren Runde „chemsha ubongo“ - praktische Einheiten auf dem Programm: Lernspiele, Körperübungen, Kreativangebote. Jeden Freitag kommt dann SETU-TV. Die Teilnehmer*innen präsentieren ihre Bilder der Woche. Noch einmal gibt es Gelegenheit, das Gelernte und Erkannte zu diskutieren und zu vertiefen.

Was bleibt?

Nach dem Kurs gehen die Teilnehmer*innen zurück in ihre jeweilige Berufssituation. Mona Behninger und Sophia Moshi werden sie dann dort besuchen. In drei Monaten werden sich alle noch einmal in Usa River treffen, zur Auswertung und zum Austausch. Die Ausbildungskurse für die Arbeit mit Menschen mit Behinderung sind – noch – ein Novum in Tansania. Aber vor allem sind sie ein Anfang. „Wenn man sieht, was sich in den letzten Jahren entwickelt hat, ist es wichtig, dass es weitergeht“, sagt Mona Behninger.

Wer ihre Arbeit gesehen hat, wird das sofort unterschreiben

15.12.2022
Thomas Nagel