Die Brücke von Mostar verbindet das muslimische und das christliche Viertel.
Bild: ELKB
Sarajevo
Wie plant man eine bessere Zukunft?
Im Oktober 2018 reiste Kirchenrat Hans-Martin Gloël, Referent für Ökumene und Weltverantwortung, mit einer Delegation der landeskirchlichen Stiftung Wings of Hope nach Bosnien. Lesen Sie seinen Schilderungen der Lage.
Der Krieg ist seit mehr als 20 Jahren vorbei. Er war der Anlass für die landeskirchliche Stiftung Wings of Hope, sich in Bosnien-Herzegovina zu engagieren. Eindrücke von der Arbeit und der Lage heute. In Kooperation mit dem Verein Progres besteht das Engagement von Wings of Hope nach wie vor. Der Vorstand von Wings of Hope hat sich auf einer Reise in den Tagen um die Wahlen in Bonien-Herzegovina ein Bild von der Arbeit und der Lage gemacht:
Ost-Neu-Sarajevo: Aus den Rathausfenstern schaut Ratko Mladic heraus. Fünf mal. Aus jedem Fenster neben der Eingangstür. Das Bild des wegen Völkermordes und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal angeklagte ehemaligen bosnisch-serbische General füllt die Fläche der Fenster ganz aus.
Ost-Neu-Sarajevo mit seinen nach dem Krieg entstandenen Vierteln gehört zur Rpublika Srpska, dem Landesteil, der fast nur noch von serbisch-orthodoxen Bewohnern besiedelt ist. Muslime und Kroaten haben diesen Landesteil durch Flucht und Vertreibung verlassen und ihren Besitz damit faktisch verloren.
Vergleicht man die Bevölkerungsverteilung vor und nach dem Krieg, so entspricht das Vorher-Bild einem bunt gewebten Teppich, das Nachher-Bild großflächiger Gleichförmigkeit. Die meisten Gebiete sind ethnisch gesäubert: Muslimische Bosniaken, Serbisch-Orthodoxe, Katholische Kroaten: man lebt getrennt.
Gefragt, ob sie hier in Ost-Neu-Sarajevo wohnen dürfe oder wolle, meint Azraa, eine muslimische Mitarbeiterin von Progres: Ja, prinzipiell dürfe hier im Land jeder wohnen wo er wolle. Ob man aber damit zurechtkomme, ob die Nachbarn das akzeptierten – das sei eine andere Frage. Und jeden Tag am Rathaus die Bilder von einem als Kriegsverbrecher Angeklagten sehen zu müssen, der hier als Held verehrt werde, sei auch nicht jedermanns Sache.
Ihre Kollegin Sania ist serbisch-orthodox, lebt aber in einem gemischten Viertel bei Sarajevo. Könnte sie sich vorstellen, hier zu leben? Natürlich könnte ich hier leben, meint sie. Aber wohlfühlen würde ich mich hier wohl nicht.
Im Rathaus dagegen betont man Verbindendes: Bewohner aus diesem Stadtteil würden schließlich auch in der Föderation, also in Sarajevo und Umgebung zur Arbeit gehen.
Progres fördert es, dass junge Menschen eine Ausbildung machen in Firmen und Landesteilen, die von einer anderen Religion oder Konfession geprägt sind. Es ist nicht nur so, dass die berufliche Zusammenarbeit unabhängig von der Herkunft gefördert wird, sondern Progres bemüht sich auch um Ansätze einer dualen Ausbildung im Sinne von praxisrelevanten Methoden. Sind in Bosnien-Herzegovina die Berufsschulen oft ganz theorielastig oder mit veralteten Maschinen ausgestattet, die kaum für die praktische Arbeit qualifizieren, so vermittelt Progres Lehrlingen und arbeitslosen Jugendlichen Praktika in Betrieben, in denen sie im Arbeitsalltag lernen können. Vom kleinen Friseursalon bis zur VW-Niederlassung in Sarajevo profitieren derzeit über 70 junge Menschen von diesem Programm.
Die mehrjährige Erfahrung zeigt, dass ca. 70 Prozent von ihnen an dem Arbeitsplatz bleiben, an dem sie gelernt haben.
Dennoch ist es für junge Menschen schwer, aufgrund der wirtschaftlichen und politischen Situation ihre Zukunft in der Heimat zu sehen. Auch wenn das Bruttoinlandsprodukt steigt und die Arbeitslosigkeit sinkt, ist die Situation nicht wirklich hoffnungsvoll: „Bosnien-Hercegovina läuft die Jugend davon“ titelt die FAZ am 6. Oktober2018, dem Tag vor den Parlaments- und Präsidentenwahlen. 44 Prozent der nur noch 3,5 Millionen Einwohner im Land zeigten sich laut Umfragen „‘völlig unzufrieden‘ mit ihren Lebensbedingungen“ heißt es da. Kein Wunder bei Nettolöhnen von rund 430 Euro im Monat.
Als inspirierend erleben die bis zu 140 Jugendlichen Teilnehmer aus verschiedenen Landesteilen dagegen das jährliche Summer-Camp mit dem etwas sperrigen Namen „Empowered Youth for a Sustainable Future“, das Progres veranstaltet und dafür 15 Jugendleiter ausbildet.
Einen geschützten Raum für Dialog zu schaffen, das sei eines der wichtigsten Ziele, sagt Azraa. Das klinge manchen vielleicht zu „cheesy“, sagt sie, man solle seine Bedeutung aber nicht unterschätzen. Dass es sich um alles andere als Käse handelt, bestätigt sich bei Begegnungen mit ehem. Teilnehmenden der Summer-Camps: diese Erfahrung habe ihr Leben verändert, meint Bahra (Name geändert); sie könne jetzt so vieles anders sehen, auch ihre Rolle hier im Land, sie habe eine ganz andere, viel positivere Perspektive auf ihr Leben.
Weil viele im Land – nicht zuletzt aufgrund der Kriegserlebnisse – unter Traumata leiden, wird Progres in den kommenden Monaten eine Weiterbildung für helfende Berufe anbieten, die für den Umgang damit schulen.
Was Progres durch die Unterstützung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern leistet, gibt vielen Menschen im Land Hoffnung und Perspektiven, ihre Zukunft im Land zu bleiben. Bei den Parlaments- und Präsidentenwahlen im Oktober 2018 haben die Nationalisten der verschiedenen Lager gewonnen. Brückenbauer wie Progres sind da nötiger denn je.
Hans-Martin Gloël
Im Oktober 2018 reiste, Kirchenrat Hans-Martin Gloël, Referent für Ökumene und Weltverantwortung mit einer Delegation der landeskirchlichen Stiftung Wings of Hope nach Bosnien.
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17.10.2018
Hans-Martin Gloël