Hausarbeit im Freien: Arara-Frauen beim Spinnen
Bild: Jens Wegener
Unterstützung für Brasiliens Indigene
Satellitenschüsseln und Mangobäume
Von wegen Paradies. Auch keine bieder-naturalistische Fantasiewelt à la Karl May. Statt bunter Zelte und eines Marterpfahls stehen gut 15 Bretterbuden in der brasilianischen Steppe. Dazu ein mit Stroh überdachter Treffpunkt um einen riesigen Mangobaum, die relativ neue Schule, ein Haus der Gesundheitsbehörde mit kleiner Apotheke. Fenster ohne Glas, ein gemauertes Gemeinschaftsklo. Im Dörfchen Paygap, rund 1.200 Kilometer südlich des gigantischen Amazonas, leben 73 indigene Menschen. Hier ist es trocken und karg, keine gute Umgebung für die wenigen Frauen, Männer und Kinder aus der brasilianischen Urbevölkerung. Aus kleinen Nussschalen fertigen die Frauen mit ihren Buschmessern Ringe und Ketten, zu haben für umgerechnet wenige Cent; die Männer verkaufen Paranüsse, die von der Dorfgemeinschaft gesammelt wurden. Tierhaltung gibt es kaum, und auch nur wenig Landwirtschaft.
Comin
Gut 900.000 Indigene leben zurzeit in Brasilien, organisiert in etwa 240 Völkern. Das sind ca. 0,4 Prozent der brasilianischen Bevölkerung. Um sie zu unterstützen, gründete die Evangelische Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien (EKLBB) 1982 einen Rat für die Arbeit mit den indigenen Völkern: COMIN.
Ziel der insgesamt zwölf hauptamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – Pädagogen, Theologen, Juristinnen, Gesundheitsbera-terinnen, Landwirtschaftsexperten – ist es, einige indigene Völker und Gemeinden temporär zu begleiten und beratend zu helfen. Dabei werden Lebensformen und Kultur respektiert; COMIN arbeitet deshalb partnerschaftlich mit den indigenen Völkern, aber nicht direkt in deren Auftrag.
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Das indigene Volk der Arara Karo besteht aus 348 Menschen, die zwar fest in mehreren Dörfern wohnen, aber als ehemalige Halbnomaden gefühlt noch auf der Wanderschaft sind. Das gefällt nicht jedem im Brasilien, denn ihre Lebensweise erfordert eine Menge Land, das den Indigenen von der Verfassung garantiert wird: Nur ein Bruchteil der riesigen Flächen ist bewohnt oder bewirtschaftet, der Rest liegt brach, wilde Natur. So viel braucht man auch, wenn man vom Jagen und Sammeln lebt. Aber die sie bekommen zusätzlich Geld vom Staat und kaufen viele Waren lieber im Supermarkt, gut zwei Stunden Fahrt auf einer staubigen Buckelpiste entfernt. Mit Autos und Mopeds ist man auch hier mobil. Und aus den wackeligen Hütten klingt immer mal wie- der Popmusik, die aktuellen Charts. Eine große Satellitenschüssel macht den Mangobäumen Konkurrenz.
Und warum engagieren sich Kirchen und Hilfsorganisationen für die brasilianischen Indigenen? Jandira Keppi, Rechtsanwältin aus Ji-Paraná, einer 100.000-Einwohner-Stadt im Bundesstaat Rondônia, reagiert fast ärgerlich auf diese Frage. Sie kümmert sich im Auftrag der Hilfsorganisation COMIN um die Arara, begleitet sie bei Verhandlungen mit der örtlichen Verwaltung und in der Politik. „Ohne unsere Hilfe hätten sie im Wettstreit um Land und Ressourcen doch keine Chance“, sagt sie entrüstet und verweist auf das Interesse der hier extrem reichen Großgrundbesitzer an dem bislang traditionell genutzten Land. Holz, Mais und Sojabohnen will man hier anbauen, vor allem zum Verkauf in andere Länder. Und für Ethanol, das in Brasilien als Benzinersatz verwendet wird.
Alltag zwischen Mediation und Mord
Mehrmals im Monat macht sich Jandira mit ihrem roten Geländewagen auf den beschwerlichen Weg zu den Indigenen und versucht, zwischen ihnen und dem modernen Brasilien zu vermitteln. Dabei ist viel Geduld gefragt: Die Völker sollen selbst entscheiden, was für sie am besten ist, COMIN hilft allenfalls im Hintergrund. Meistens geht es um unterschiedliche Sichtweisen – und dann ist so etwas wie Mediation vonnöten: Warum sollen nicht auch die Indigenen für ihren Lebensunterhalt sorgen, Landwirtschaft betreiben oder dahin ziehen, wo es Arbeitsplätze gibt? Umgekehrt ist Brasilien 24-mal so groß wie Deutschland, es gäbe also genug Platz. Manchmal geht es aber auch um zwar versprochene, aber nicht ausgezahlte Gelder der Regierung, dann muss die Anwältin deutliche Briefe schreiben. Oder um schwere Straftaten, etwa dann, wenn sich ein indigener Schüler weigert, sein Handy zu verkaufen, um das Besäufnis mit angeblichen Freunden zu finanzieren. Nach zwei Messerstichen in den Rücken ist er tot – und Jandira wird gebeten, im Mordprozess zu helfen.
Dass die indigenen Völker Hilfe aus der Moderne brauchen, ist auch Jasom de Oliveira und seiner Frau Janaina Hübner – er Anfang 30, sie Ende 20 – klar. Beide arbeiten für COMIN, allerdings im Bundesstaat Santa Catarina, gut 3.000 Kilometer entfernt, Richtung Südosten. Beide vertreten aber unterschiedliche Standpunkte, wenn es um das „Wie“ der Hilfe geht. Während Jasom ganz stark auf Eigenständigkeit und Selbstverantwortung der Indigenen pocht, ist seine Frau bereit, wesentlich konkreter zu helfen. In den acht von ihnen betreuten Dörfern der Laklãnõ-Xokleng kümmert sie sich darum, dass die hohe Kindersterblichkeit zurückgeht und die Familien nicht nur ausreichend, sondern auch gesunde Nahrung zur Verfügung haben. „Sie schaffen es noch nicht, mit einer geregelten Arbeit ihr Geld zu verdienen“, erläutert die Sozialarbeiterin verständnisvoll. Ihr Mann allerdings meint, dass man ihnen durchaus auch Eigeninitiative zumuten kann, „gezielte Provokation“ nennt er das.
Nicht ohne Erfolg, denn die Laklãnõ-Xokleng haben im Dorf Bugio ein kleines Museum, einen EcoTrail-Pfad und eine traditionelle Küchenhütte gebaut, wo Besucher über die Geschichte und das Leben der Indigenen informiert werden. Mit toller Resonanz: Vor allem Schulklassen und Reisegruppen machen sich auf ins Dorf und lernen dort, wie die Urbevölkerung seit Jahrhunderten lebt, jagt, kocht und speist. „Die Menschen hier wollen nicht in ihrer Vergangenheit bleiben“, bekräftigt Jasom, „aber sie wollen das Recht, so zu leben, wie sie leben wollen.“ Trotzdem mischt auch er sich manchmal ein: So hat er die Indigenen von der Mülltrennung überzeugt – hier wie bei uns ein langwieriges Projekt, das inzwischen aber sehr gut funktioniert.
Wenig Kontakt zur Urbevölkerung
Die Laklãnõ-Xokleng wohnen in der Nähe des malerischen „Europäischen Tals“, das mehr nach Deutschland aussieht als nach Südamerika. Schmucke Einfamilienhäuser, gepflegte Vorgärten, jede Menge Parks und Kirchen. Vor gut 180 Jahren wurde diese Gegend vor allem von Deutschen und Italienern besiedelt, bis heute spricht man hier neben portugiesisch auch deutsch, häufig mit altertümlichem Akzent. Die Menschen heißen Heidrich, Bierbaum oder Herzog und sind stolz darauf, dass in ihrer neuen Heimat das nach München zweitgrößte Oktoberfest der Welt gefeiert wird. Eine ältere Dame, angesprochen auf die Indigenen in der Nähe, zeigt sich tolerant: Die fände sie gut, meint sie auf Deutsch, und berichtet, dass sie bereits in der Schule indigene Freundinnen gehabt habe. Nur ein bisschen mehr arbeiten, findet sie, das könnten sie schon.
Viele der gut 200 Millionen Brasilianer hingegen haben gar keinen Kontakt mehr zur Urbevölkerung. Bis vor einigen Jahren galten die Indigenen nicht einmal als vollwertige Menschen, wurden sogar verfolgt und aus den von ihnen genutzten Gebieten verjagt. Noch immer kommt es ab und an zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, vor allem von Seiten der Grundbesitzer und Landarbeiter. Doch der Staat Brasilien hat inzwischen eine Menge für die Urbevölkerung getan, ihnen Land und auch Sonderrechte zugesprochen. Wie sie diese nutzen, bedarf häufig langwieriger Abstimmungen, denn anders als in Europa beispielsweise kann hier jeder ausführlich sagen, was er denkt – auch wenn es Stunden dauert. Eine andere Kultur, in der man sich Zeit nimmt. Und aufeinander hört.
Hohe Kindersterblichkeit, schlechte Ernährung
Ein solches Treffen verschiedener Dörfer – diesmal geht es um Gesundheit und Ernährung – beobachten auch drei Frauen aus dem Dekanat Sulzbach-Rosenberg. 21 Tage sind sie mit ihrem brasilianischen Austauschpfarrer Alfredo Malikoski unterwegs, um das Engagement der bayerischen Landeskirche und der Hilfsorganisation „Brot für die Welt“ kennenzulernen, die COMIN zum großen Teil mitfinanzieren. Und auch hier gibt es Stirnrunzeln auf die Frage nach dem Sinn einer solchen Arbeit: „Weil die Regierung in Brasilien nicht genügend macht“, sagt Gerda Stollner aus Aicha, die ihren gesamten Jahresurlaub für diese anstrengende Reise geopfert hat. Seit 40 Jahren unterstützt das Dekanat die Indigenen-Arbeit in Brasilien, zurzeit vor allem die Krankenschwester Noelí Falcade. Ihre Aufgabe: Das Volk der Kaingang in gesundheitlichen Fragen zu beraten, denn auch hier ist die Kindersterblichkeit hoch.
Dass in Europa im Laufe der Jahrhunderte viel Wissen über die Natur verloren gegangen ist, davon ist Pfarrerin Birgit Schwalbe aus Rieden, die mit der Gruppe durch Brasilien reist, überzeugt. Doch das gilt eben auch für die indigenen Völker – gerade bei Fragen zu Ernährung oder Gesundheit. Und so hat die Arbeit von COMIN vor allem deshalb Sinn, weil sie weit entfernt ist von überzogener Kritik an der Moderne und naiver Lagerfeuer-Romantik. Die indigenen Völker gehören zur brasilianischen Gesellschaft und werden sich mehr und mehr integrieren, das ist keine Frage. Ihre Rechte aber, ihre Kultur und ihre Geschichte – die gilt es zu schützen und zu bewahren. Und das ist jede Hilfe wert.
09.10.2017
Rüdiger Niemz