Dorfversammlung im Rahmen des Dalit-Empowerment-Programms der Diözese Amritsar, Kirche von Nordindien
Bild: Johny Thonipara
Indien
Christliche Gemeinschaften in Bedrängnis
Mit 1,3 Milliarden Einwohnern ist Indien die größte Demokratie der Welt und Religionsfreiheit ist in der Verfassung verankert. Etwa 2,3 Prozent der Gesamtbevölkerung gehören einer christlichen Kirche an. "Radikale Gruppen, die Indien als für Hindus reserviert betrachten, gehen mit Verleumdungen und Gewalt gegen Christen und Muslime vor; Anti-Konversionsgesetze in einigen Bundesstaaten behindern das Recht, die Religion frei und ohne Benachteiligung zu wechseln, wovon Christinnen und Christen in besonderer Weise betroffen sind", so die Leiterin der Hauptabteilung Ökumene und Auslandsarbeit der EKD, Bischöfin Petra Bosse-Huber.
Deshalb bitte sie die Kirchen und Gemeinden in Deutschland, am Sonntag Reminiszere, dem 28. Februar 2021, in den Gottesdiensten an die Menschen in Indien und außerhalb ihres Landes zu denken und für sie und mit ihnen zu beten: "Angesichts dieser Entwicklungen ist es umso notwendiger, den Kirchen in Indien in ihrem vielfältigen und mutigen Zeugnis für Nächstenliebe und Frieden in einer multikulturellen Gesellschaft beizustehen."
Dr. Theodor Rathgeber, wissenschaftlicher Autor und entwicklungspolitischer Gutachter für Menschenrechte und Minderheiten, beschreibt in seinem Beitrag die aktuelle Lage der christlichen Gemeinden und Gruppen in Indien.
Einschüchterung – Widerspruch – Solidarität: Christliche Gemeinschaften in Bedrängnis
von Dr. Theodor Rathgeber
Im August 2008 beherrschten für mehrere Wochen Gewaltexzesse im Namen der Religion auch international die Schlagzeilen. Die Gewalt richtete sich gegen christliche Gemeinden im Distrikt Khandamal im Bundesstaat Odisha. Über 100 Menschen wurden getötet, mehrere Tausende verletzt, rund 6.000 Häuser und fast 300 Kirchen zerstört. Knapp 60.000 Menschen verloren Hab und Gut. Entschädigungen gab es nur in wenigen Fällen. Religiös motivierte Gewalt in diesem Ausmaß blieb den christlichen Gemeinden danach zwar erspart. Häufiger attackieren radikale Hindu-Gruppen Muslime. Der August 2008 setzte jedoch das Fanal, dass Christen1 von den willkürlichen Attacken und Anfeindungen radikaler Hindu-Anhänger nicht verschont bleiben.
Historisch betrachtet zeichnet sich der Hinduismus durch eine tolerante Haltung gegenüber anderen Religionen aus. Der Hinduismus selbst setzt sich aus einer Vielfalt von religiösen Strömungen, Gottheiten und wirkmächtigen Persönlichkeiten zusammen und ist Ursprung neuer Religionsgemeinschaften wie des Jainismus, Buddhismus oder der Sikhs.
Allerdings bestreiten heute radikale Hindu-Gruppen die Eigenständigkeit der Jain-Religionsgemeinschaft trotz gegenteiligem Grundsatzurteil des Obersten Gerichtshof Indiens (Supreme Court) aus dem Jahr 2006. In gleicher Weise ordnen diese Gruppen den naturreligiös fundierten Glauben der Adivasi (indigene Völker in Indien) als eine Vorform des Hinduismus unter. Seit der Eskalation der Moschee-Tempel-Kontroverse in Ayodhya (Bundesstaat Uttar Pradesh) im Jahr 1992 haben die radikalen Strömungen im Hinduismus an öffentlicher Aufmerksamkeit gewonnen und drängen die Tradition der Toleranz ins gesellschaftliche Abseits – mit parteipolitischem Rückhalt der indischen Volkspartei BJP (Bharatiya Janata Party).
Unter der BJP-Regierung von Premierminister Narendra Modi hat die Wende gegen den offenen und toleranten Geist an Fahrt aufgenommen. Insgesamt hat sich die Lage der Religions-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit merklich verschlechtert. Die Äußerung von Dissens ist zu einem Risiko geworden. Wie ein Damoklesschwert schwebt die Gefahr einer nächsten Eskalation durch fundamentalistische Hindus über den Grundfreiheiten religiöser Minderheiten in Indien. Der Hindu-Religion geschuldete Lebensformen und Praktiken sollen zur allgemeingültigen gesellschaftlichen Norm erhoben werden.
Religions- und Weltanschauungsfreiheit in Indien
Noch ist die Religionsfreiheit in der Verfassung Indiens festgeschrieben und beauftragt die Regierung, die große ethnische, religiöse und kulturelle Vielfalt des Landes nicht nur zu bewahren, sondern sie auch zu fördern. Die Verfassungsartikel 14 (Gleichheit vor dem Gesetz), 15 (Verbot der Diskriminierung aufgrund von Religion, Rasse, Kaste, Geschlecht oder Geburtsort), 25 Abs. 1 (das Recht, die Religion frei zu bekennen, zu praktizieren und zu propagieren) oder 26 (Regelung von religiösen Angelegenheiten in eigener Regie der Glaubensgemeinschaft) sind in dieser Hinsicht eindeutig.
Evangelische Kirche in Deutschland (EKD)
Fürbitte für bedrängte und verfolgte Christen. Sonntag Reminiszere, 28. Februar 2021
Im Fokus: Indien
Sondergesetze in acht Bundesstaaten (Arunachal Pradesh, Chhattisgarh, Gujarat, Himachal Pradesh, Jharkhand, Madhya Pradesh, Odisha, Uttarakhand), die den Glaubenswechsel (Konversion) regeln – sprich: vor allem den Übertritt vom Hinduismus zum Chris¬tentum verunmöglichen sollen – widersprechen diesen Vorgaben in der Verfassung. Die Freiheit, den Glauben zu wechseln oder dafür zu werben, ist auch in der indischen Verfassung ein Wesensmerkmal der Religions- und Bekenntnisfreiheit. Wortklauberei wie der Schutz des höheren Guts der öffentlichen Ordnung, Moral und Gesundheit kann darüber nicht hinwegtäuschen.
Was Regierungen nicht davon abhält, bis zur Widerlegung durch den Supreme Court die Ausle¬gung der Verfassung im eigenen Interesse zu forcieren. So jüngst wieder geschehen bei der Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts (Citizenship Amendment Act, CAA) 2019. Staatsbürgerliche Rechte werden mit der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft verknüpft, Muslime dadurch im Ergebnis ausgeschlossen – mit der aktu¬ellen Verfassung eigentlich nicht vereinbar.
Die Vielfalt und das Freiheitsversprechen lassen sich auch in der Statistik aufspüren. Laut Zensus von 2011 zählen sich knapp 80 Prozent der indischen Bevölkerung (rund 1,3 Milliarden) zum Hinduismus, 14,2 Prozent zu Muslimen, 2,3 Prozent zum Christentum, 0,7 Prozent zum Buddhismus und 1,7 Prozent zu den Sikhs.
Die auf bis zu 170 Millionen geschätzten Muslime in Indien bedeuten eine der größten islamischen Bevölkerungen weltweit. Überdies ist zwischen dem ersten Zensus 1951 und jüngsten 2011 ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung Indiens um etwa fünf Prozent gewachsen, während parallel der Anteil der Hindus im gleichen Maße abgenommen hat. Solche Trends befeuern die Angstszenarien der Hindu-Fundamentalisten vor einem vermeintlichen Untergang des Hinduismus in Indien, sollte nicht aktiv gegengesteuert werden.
Christlicher Glauben ist vor allem in den marginalisierten Bevölkerungsschichten vertreten, Neuzugänge kommen vorwiegend aus den Kreisen der Adivasi oder Dalits. Von den knapp 30 Millionen Christen gehören 70 Prozent dem Katholizismus an. Im Unterschied zur numerischen Bedeutung sind die von christlichen Einrichtungen geführten Schulen, Universitäten, Krankenhäuser, Gesundheitszentren, Waisenhäuser oder Seniorenunterkünfte eine wichtige Stütze im sozialen Sektor – weil sie nicht zuletzt in sozial randständigen, ländlichen Umgebungen funktionieren.
Die Hindu-fundamentalistische, nationale Freiwilligenorganisation RSS (Rashtriya Swayamsevak Sangh) hat diese Nähe zur lokalen Bevölkerung zu kopieren begonnen und seit Jahren den Aufbau einer vergleichbaren Struktur systematisch betrieben. Das funktioniert nicht immer geradlinig, aber mit wachsender, wahrnehmbarer Ausdehnung.
Tektonische Verschiebungen
Die RSS ist kein Wettbewerber um die bestmögliche soziale Versorgung lokaler Bevölkerungsgruppen, sondern ein Machtfaktor zur uniformen Gesellschaft. BJP, RSS und andere Betreiber der fundamentalistischen Hindu-Ausrichtung Indiens (Hindutva) wollen einen religiös fundierten Nationalstaat, der die Vielfalt der lokalen Gemeinschaften und bundesstaatlichen Körperschaften, mithin auch die säkulare Staatsform Indiens beseitigen, die Vorherrschaft der Hindutva, und die systematische Verknüpfung von Politik und Religion erzwingen will.
Die Auffassung, der Hinduismus in Indien solle die allein bestimmende, religiöse Kraft sein, schlägt sich auch in der Überwachung und Gängelung sozialer Beziehungen nieder. Überwiegend straffrei agierende Bürgerwehren, Wächtergruppen (Vigilantismus), Mobs, Eiferer und Agitatoren der Lynchjustiz fühlen sich seit dem Wahlgewinn und der Machtübernahme der BJP im Jahr 2014 bestärkt. Selbst bei „kleineren Vergehen“ wie gegenseitiger nachbarschaftlicher Nahrungshilfe mit Rindfleisch nach einer Überschwemmung wird rigoros vorgegangen. Gerüchte, verbreitet über Social Media-Formate, reichen aus zur Lynchjustiz.
Dass Christen mit unlauteren Methoden missionieren, gehört hier ebenfalls zum Repertoire der Eiferer und Hetzer. Parallel zur sozialen Anfeindung werden administrative Verfahren instrumentalisiert, um etwa den Bezug von Spendengeldern aus dem Ausland über dafür notwendige FCRA-Konten (Foreign Contribution Regulatory Act) unter fadenscheinigen Vorwänden zu unterbinden.
Das Beschriebene ist nicht neu, aber wirkmächtig geworden. Vor allem: Die Verlässlichkeit in eine tradierte Nachbarschaft, das Vertrauen in die Respektierung der Grundregeln durch Staat, Regierung und Verwaltung ist seit Khandamal auch unter Christen nachhaltig erschüttert. Im Kleinen wie im Großen muss die interreligiöse Verständigung aktiv erneuert und erprobt werden. Was wäre zu tun?
Widerspruch und Solidarität
Die Veränderungen in Indien stoßen auch international auf Kritik. Die US-Kommission für internationale Religionsfreiheit (USCIRF) stellte in ihrem Jahresbericht 2017 fest, dass sich die Religionsfreiheit in Indien unter der Regierung von Premierminister Modi drastisch verschlechtert habe. Straf lose Gewalt gegen Minderheiten und ihre Gotteshäuser, Hassreden oder Aufstachelung zur Gewalt würden toleriert. Die Kommission schlug vor, Indien auf eine Liste von Ländern zu setzen (inklusive Iran, Pakistan, Nordkorea), deren politisches Handeln in Sachen Religionsfreiheit als „besorgniserregend“ einzustufen sei. Donald Trump machte sich den Vorschlag nicht zu eigen, aber der Bericht schlug nicht zuletzt in Indien hohe Wellen. Im Juni 2020 verweigerte die indische Regierung der USCIRF die Einreise. Sie hatte die Verletzung der Religionsfreiheit erneut prüfen wollen
Im August 2018 veröffentlichte der UN-Sonderberichterstatter zu heutigen Formen von Rassismus und Diskriminierung aufgrund u.a. der religiösen Zugehörigkeit seinen Bericht an die UN-Generalversammlung (Dokument A/73/305). Die Regierung von Narendra Modi wird darin genannt, durch ihre Politik die Gewalt gegen Minderheiten mit ausgelöst zu haben. Im Juni 2020 forderten mehrere UN-Sonderberichterstatter in einer Presserklärung die indische Regierung auf, die Inhaftierungen von Protestteilnehmenden gegen die CAA-Änderung aufzuheben. Hervorgehoben wurde die historisch tragende Rolle der Zivilgesellschaft bei der gesellschaftlichen Entwicklung Indiens. Im Deutschen Bundestag stellten Oppositionsparteien 2019 und 2020 mehrere Anfragen an die Bundesregierung, in denen die Meinungs- und Versammlungsfreiheit als wichtiger Aspekt für eine Kooperation zwischen Indien und Deutschland hervorgehoben wurde.
Wenngleich die Wirksamkeit solcher Stellungnahmen schwer zu ermessen ist, lässt sich beobachten, dass Premierminister Modi bemüht ist, dem Eindruck entgegenzutreten, seine Regierung unternehme nichts, um die Gewalt gegen religiöse Gruppen zu stoppen und sie zu verurteilen. So hat sich der Premierminister vor dem Jahrestag der indischen Unabhängigkeit am 13. August 2018 unter den Augen einer internationalen Öffentlichkeit eindeutig gegen jede Form von Lynchjustiz ausgesprochen. Kritische Anfragen an die Regierungsfähigkeit der BJP haben dazu beigetragen, dass nach den Landtagswahlen in Kerala im April 2019 die BJP nicht an der Regierungsbildung beteiligt worden war – trotzdem sie zahlenmäßig die stärkste Partei wurde.
Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz und Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)
Ökumenischer Bericht zur Religionsfreiheit von Christen weltweit 2017
Das Recht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit: Bedrohungen – Einschränkungen – Verletzungen. Gemeinsame Texte Nr. 25
Christliche Gemeinden und Gruppen in Indien haben sich ihrerseits immer wieder zu Wort gemeldet. Im August 2020 haben „indische Christen für Demokratie“ ein Statement veröffentlicht, in dem sie zur Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft aufrufen, um ein Indien der Grundrechte, Säkularität, kulturellen Vielfalt sowie Religions- und Bekenntnisfreiheit auch in Zeiten von COVID-19 zu realisieren. Lokale und regionale Aktionsbündnisse von Persönlichkeiten und hinduistischen, buddhistischen, muslimischen und christlichen Religionsführern haben nach 2014 verstärkt Absprachen gesucht, um das groß gewordene, gegenseitige Misstrauen wieder abzubauen. Fest- und Gedenktage werden gemeinsam begangen. Gemeinsame Konzerte von Angehörigen christlicher Glaubensgemeinschaften und Hindus auf lokaler Ebene gehen in die gleiche Richtung.
Innerkirchlich werden die Gemeinden ermuntert oder auch aufgefordert, nicht selbst zur Verfestigung des hindu-fundamentalistischen Werte- und Kastensystems beizutragen und in der Gemeinde abzubilden, sondern sich wieder stärker auf den christlichen Auftrag der sozial gerechten Gemeinschaft zu konzentrieren, die Mittellosen zu stützen, Rückhalt und soziale Sicherheit anzubieten, im besten Sinne diakonische, humanitäre Hilfe zu organisieren. So würden auch die Werte der indischen Verfassung durch gute Praxis hochgehalten, mithin die eigene Existenz untermauert.
Unterstützen wir sie dabei, in- und außerhalb von Gotteshäusern, wahrnehmbar und mit Erwartungen gekoppelt, die von den politisch Handelnden in Deutschland ein Eintreten für die Religions- und Weltanschauungsfreiheit in Indien, mithin für ein säkulares Indien eintreten.
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26.01.2021
EKD/Dr. Theodor Rathgeber/ELKB